Christian Erzberger: Zahlen und Wörter - Die Verbindung quantitativer und qualitativer Daten und Methoden im Forschungsprozess

Die Studie widmet sich einer in den Sozialwissenschaften latent vorhandenen methodologisch/methodischen Kontroverse über 'richtiges' Forschungshandeln, wobei das hypothetico-deduktive und das interpretative Vorgehen die Gegenpole bilden. Die Protagonisten der verschiedenen Richtungen versuchen, diesen Gegensatz durch den Begriff Paradigma zu zementieren. Ihren Niederschlag findet diese Trennung u.a. in der Zweiteilung von Lehrbüchern, die sich entweder mit der einen oder der anderen Vorgehensweise beschäftigen.

Zunächst werden die Grundzüge der beiden Paradigmen als interne Beschreibungen, d.h. aus der Sicht der Vertreter des jeweiligen Paradigmas, vorgestellt. Dabei entsteht das Bild einer Forschung von 'oben nach unten' gegenüber einer Forschung von 'unten nach oben'. Steht im hypothetico-deduktiven Paradigma die Überprüfung von Theorien und Hypothesen am empirischen Material im Vordergrund, so ist es Ziel einer interpretativen Strategie, theoretische Aussagen erst aus dem Material zu entwickeln. Entsprechend dieser Sichtweisen stellen sich unterschiedliche Probleme bei der Forschung ein. Verlangt die hypothetico-deduktive Forschung nach speziellen Validierungsmaßnahmen, da theoretische Begriffe qua Operationalisierung auf die Ebene der Empirie heruntergebrochen werden müssen, so kämpft die interpretative Forschung häufig mit dem Problem der Verallgemeinerbarkeit, die aufgrund der notwendigerweise kleinen Fallzahlen nicht immer schlüssig vorgenommen werden kann: Statistische Korrelationen von numerischen Werten über eine große Anzahl von Fällen stehen dabei auf der einen Seite und hermeneutische Rekonstruktionen des gemeinten Sinns anhand von Textmaterialien weniger Personen auf der anderen.

Auf die vermeintlich unüberwindbare Trennung der Forschungsstrategien wird immer wieder durch den Gebrauch des Begriffs 'Paradigma' hingewiesen, ist dieser doch lange mit der Inkommensurabilität von Forschungsstrategien verbunden gewesen. Als Synonym für unvereinbare Forschungsstrategien allerdings lässt er sich nicht verwenden. Unterzieht man nämlich diesen Begriff - und die mit ihm verbundenen Inhalte - einer genaueren Analyse, so wird klar, dass Paradigmen durchaus nebeneinander existieren können und auch die Widerlegung von Teilen eines Paradigmas nicht gleich zum Einsturz des gesamten Gebäudes führt. Paradigmen sind sehr wohl in der Lage, sehr Unterschiedliches aufzunehmen, und auch die forschenden Wissenschaftler sind angehalten, ihre Glaubenssätze immer wieder neu zu überprüfen und sich nicht dem hinzugeben, was Kuhn die Normalwissenschaft nennt (eine exaktere Fassung von paradigmaverträglichen Aussagen). Die Kritik am Paradigma-Begriff (z.B. von Popper und Lakatos) lässt nun den Begriff nicht obsolet werden, aber sie relativiert ihn: Es existieren Paradigmen, aber nicht in einer strengen, unüberwindbaren Form, sondern lediglich als ein Satz von grundlegenden Annahmen, die das Forschungshandeln leiten.

Anhand des Vergleiches der paradigmaspezifischen Adjektive 'makro/mikro', 'erklären/verstehen' und 'überprüfen/entdecken' wird herausgearbeitet, dass es zwar Unterschiede in den Strategien der Erkenntnisgewinnung gibt, dass aber das Erkenntnisinteresse vom Forschungsgegenstand selber auszugehen hat. Die konkrete Fragestellung verbindet sich mit spezifischen methodologischen Vorstellungen, die den Einsatz entsprechender Methoden nach sich ziehen. Damit ist nicht eine bestimmte Forschungsstrategie per se besser als eine andere, sondern nur angemessener hinsichtlich der zu untersuchenden Fragestellung. Grundsätzlich gibt es damit kein richtiges oder falsches Forschungshandeln, sondern nur Forschungshandeln, das dem Erkenntnisinteresse mehr oder weniger angemessen ist, und damit selbstverständlich durchaus auch falsch sein kann. Dieses trifft auf die Wahl einer Methode ebenso zu wie auf die Kombination unterschiedlicher Methoden. Im letzten Fall können sich die Methoden dann die Arbeit 'teilen': Interpretative Rekonstruktion des gemeinten Sinns von Handlungen (qualitativ) und Erfassung von nicht intendierten Handlungsfolgen (quantitativ).

Die Darstellung und Diskussion der vier hauptsächlich in der sozialwissenschaftlichen Forschung verwendeten Datentypen (quantitative Aggregatdaten, quantitative Individualdaten, qualitative Institutionendaten, qualitative Individualdaten) zeigen im Ergebnis, dass Methodenkombinationen immer dann sinnvoll sind, wenn bei dem Einsatz mehrerer Datentypen unterschiedliche Ebenen abgebildet werden sollen. Hier können dann quantitative Daten Auskunft über Strukturzusammenhänge geben, während qualitative Daten das Interpretationsmaterial liefern, das zum Verständnis quantitativer Daten unverzichtbar ist. Die Strategien 'von oben' und 'von unten' ergänzen sich, denn statistische Verteilungen 'leben' von Interpretationen, und individuelle Handlungsintentionen werden erst durch die Einbettung in einen strukturellen Rahmen sinnvoll.

Allerdings ist die beschriebene Arbeitsteilung nicht gänzlich unproblematisch, denn nur unter der Annahme der vollkommenen Informiertheit der qualitativ befragten Personen ist davon auszugehen, dass deren Interpretationen zur Erklärung von statistischen Verteilungen dienen. Häufig jedoch zeigen sich Handlungsfolgen als nicht intendiert, da diese auch nicht bewusst wahrgenommen werden können. Nimmt man aber die jeweiligen Methoden und die mit ihnen verbundenen unterschiedlichen methodologischen Vorstellungen ernst und sieht sie als gleichberechtigt an, so entstehen unterschiedliche Kombinationen der hervorgebrachten Ergebnisse: Diese können sich kongruent zueinander verhalten, sie können ein komplementäres Bild entstehen lassen, oder aber in einem divergenten Verhältnis zueinander stehen. Die Stellung der Ergebnisse zueinander ist mit unterschiedlichen Annahmen verbunden: So wird Kongruenz häufig als Zeichen hoher Validität gesehen, da unterschiedliche Methoden zu identischen Ergebnissen führen. Komplementarität dagegen wird als Erweiterung des Blickes begriffen. Der Gegenstand kann von unterschiedlichen Seiten besser (vollständiger) erfasst werden, wobei diese Ergänzung über theoretische Vorstellungen der Art der Komplementarität erreicht wird: Eine Theorie (Hypothese, Annahme) sorgt dabei gleichsam für den Kitt, der die unterschiedlichen Ergebnisse miteinander kompatibel macht. Sehr wahrscheinlich jedoch ist, dass durch die Unterschiedlichkeit der methodologischen Vorstellungen, die in die Methoden eingelagert sind, die Ergebnisse sich als nicht passend, d.h. divergierend herausstellen. Hier müssen dann - über den Weg der Abduktion - verbindende Theorien oder Hypothesen gefunden werden, die die Divergenz der Ergebnisse in Komplementarität verwandeln. Dieses ist ein kreativer Akt der Forschung, weil immer auch Theorien oder Annahmen zur Erklärung herangezogen werden müssen, die bislang für diesen Zusammenhang nicht beachtet worden waren. Hier manifestiert sich in besonderem Maße die Stärke kombinationsorientierter Forschung: Die Divergenz zwingt zur Modifikation von Theorien mit dem Ziel, diese besser der empirischen Realität anzupassen.

Im Buch werden die vorangegangenen Ausführungen an einem empirischen Forschungsprojekt des Sonderforschungsbereiches exemplifiziert. Denn ermöglicht wird eine Ergebniskombination erst dann, wenn sichergestellt werden kann, dass die verwendeten Daten aufeinander Bezug nehmen. D.h. kombinationsorientierte Forschung muss die Datenverknüpfung schon im Design berücksichtigen, um zu einer glaubhaften Ergebniskombination zu gelangen. Die Datenverknüpfungen werden dabei erreicht über die Konstruktion der unterschiedlichen quantitativen und qualitativen Samples und eine auf quantitativen Daten gegründete Prozessgrafik, die als Erzählanreiz in den qualitativen, auf Leitfadentechnik basierenden Interviews dient.

Die Kombination von Zahlen und Wörtern zeigt ihre Notwendigkeit im Angesicht der Analyse moderner Gesellschaften. Diese zeichnen sich auf der einen Seite durch eine große Varianz an Handlungsmöglichkeiten - gerade auch innerhalb unbekannter Subkulturen - aus und sorgen auf der anderen Seite über sozialstaatliche Lenkung und Verrechtlichung für eine Institutionalisierung des Lebenslaufes, die die Berechenbarkeit der Handlungen von Akteuren erhöht. Gerade diese Doppelseitigkeit zeigt, dass beiden Seiten in sozialwissenschaftlichen Analysen Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Analysen, die lediglich die quantitative Strukturseite berücksichtigen und sich in statistischen Verteilungen niederschlagen, können dann nicht mehr einer Interpretation zugeführt werden, wenn das zur Interpretation benötigte Wissen fehlt; gleichzeitig verlieren qualitative Analysen an Glaubwürdigkeit, wenn Strukturen entstehen, die unabhängig von individuellen Handlungsintentionen ein bestimmtes Verhalten erzwingen. Ohne die Kombination von Methoden und Daten bliebe die Struktur ohne Erklärung und die Intention ohne Folge.

Damit ist die Arbeit ein Plädoyer für einen empirischen Pragmatismus, der sich am Erkenntnisinteresse und dem Forschungsgegenstand orientiert und nicht an methodologischen Orthodoxien. Es geht um die methodologisch unvoreingenommene Erfassung und Analyse des jeweils zu untersuchenden sozialwissenschaftlichen Phänomens.

Kurzbiographie

1979 bis 1982 Studium der Sozialarbeit/Sozialpädagogik in Bremen, anschließend Tätigkeit in der offenen Jugendarbeit. Studium der Soziologie an der Universität Bremen, Abschluss 1991. 1989 Mitgründer der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung e.V. (GISS) in Bremen, die sich speziell mit Forschungen und Institutionenberatung im Bereich von Armut und Obdachlosigkeit beschäftigt. Seit 1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 186 im Teilprojekt B1. 1997 Promotion zum Dr. phil..



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