Susann Kluge: Empirisch begründete Typenbildung - Zur Konstruktion von Typen und Typologien in der qualitativen Sozialforschung

Problemstellung und Forschungsziele

Mit Hilfe der Konstruktion von Typen und Typologien können nicht nur sehr heterogene Untersuchungsbereiche geordnet und strukturiert, sondern vor allem auch komplexe Handlungsmuster und ineinandergreifende zeitliche Entwicklungsverläufe erfasst und verstanden werden. Der Typusbegriff spielt daher nicht nur seit dem Beginn der empirischen Sozialwissenschaften eine bedeutende Rolle, sondern erlebt seit den 80er Jahren eine Renaissance im Bereich der qualitativen Lebenslauf- und Biographieforschung. In diesen Studien werden soziale Akteure mit Hilfe von offenen, meist narrativen oder problemzentrierten Interviews ausführlich zu verschiedenen Lebensereignissen oder biographischen Entwicklungsverläufen und den damit verbundenen Erfahrungen und Entscheidungsprozessen befragt. Da diese Erhebungen in der Regel zu sehr umfangreichem Textdatenmaterial führen, stellt sich für die Forscherinnen und Forscher immer wieder die Frage, wie Typen und Typologien anhand eines solchen Datenbergs systematisch und nachvollziehbar gebildet werden können. In der aktuellen sozialwissenschaftlichen Literatur finden sich bisher nur kaum Arbeiten, in denen der Prozess der Typenbildung detailliert expliziert und systematisiert wird. Außerdem werden in den verschiedenen Einzelstudien sowie den wenigen allgemeinen Ansätzen zur Typenbildung, die in der Literatur vorgestellt werden, verschiedene Typenbegriffe verwendet (z.B. Idealtypen, empirische Typen, Strukturtypen, Prototypen etc.) oder der Typusbegriff wird gar nicht explizit definiert. Es ist daher ein lohnendes Unterfangen, der Frage nachzugehen, ob und wie der Typusbegriff möglichst allgemein definiert werden kann und wie Regeln für eine systematische und nachvollziehbare Bildung von Typen und Typologien formuliert werden können.

Zur Definition des Typusbegriffs

Zunächst einmal besteht jeder Typus (1.) aus einer Kombination von Merkmalen, wobei jedoch zwischen den einzelnen Merkmalsausprägungen jedes Typus nicht nur empirische Regelmäßigkeiten (Kausaladäquanz), sondern (2.) auch inhaltliche Sinnzusammenhänge (Sinnadäquanz) bestehen sollten. Bereits Max Weber hat ausdrücklich betont, dass sowohl die kausal- als auch die sinnadäquaten Verbindungen untersucht werden müssen, wenn man zu einer "richtigen kausalen Deutung typischen Handelns" und zu "verständlichen Handlungstypen" gelangen will. Trotz all der Unterschiede, die zwischen Typen hinsichtlich formaler Eigenschaften wie dem Grad der Abstraktheit, der Komplexität, des Zeit-Raum-Bezugs, des Realitätsbezugs etc. bestehen, kann also jeder Typus inhaltlich durch die Kombination seiner Merkmalsausprägungen definiert werden. Jeder Typologie liegt dementsprechend ein Merkmalsraum zugrunde, der sich durch die Kombination der ausgewählten Merkmale bzw. Vergleichsdimensionen und ihrer Ausprägungen ergibt.

Wenn mit den gebildeten Typen Aussagen über die soziale Realität getroffen und keine spekulativen Konstrukte produziert werden sollen, müssen sozialwissenschaftliche Studien auf empirischen Untersuchungen basieren. Andererseits sind empirische Forschungen aber immer auch auf theoretisches (Vor-)Wissen angewiesen, da solche Analysen nicht rein induktiv durchgeführt werden können. Nur wenn also empirische Analysen und theoretisches (Vor-)Wissen miteinander verbunden werden, können "empirisch begründete Typen" gebildet werden. Dieser Begriff soll – im Gegensatz zu Webers Idealtypus oder Beckers "constructed types" – den empirischen Anteil der gebildeten Typen verdeutlichen, da oft zu Unrecht kritisiert wird, dass es sich bei Typen lediglich um empirieferne Konstrukte handele, die nicht dazu geeignet seien, die untersuchte Realität zu erkennen.

Das Stufenmodell empirisch begründeter Typenbildung

Um ein methodisch kontrolliertes Vorgehen bei der Typenbildung sicherzustellen, sollte – ausgehend von der dargelegten Definition – zwischen den folgenden vier Auswertungsstufen unterschieden werden:

(1) Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen: Wird der Typus als Kombination von Merkmalen definiert, braucht man zunächst Merkmale bzw. Vergleichsdimensionen, mit deren Hilfe die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den untersuchten Fällen angemessen erfasst und die ermittelten Gruppen und Typen schließlich charakterisiert werden können. Diese Merkmale und ihre Ausprägungen werden sowohl anhand des theoretischen (Vor-)Wissens als auch anhand des Datenmaterials erarbeitet und "dimensionalisiert".

(2) Gruppierung der Fälle und Analyse der empirischen Regelmäßigkeiten: Anschließend können die Fälle anhand dieser Merkmale gruppiert und die ermittelten Gruppen hinsichtlich empirischer Regelmäßigkeiten untersucht werden. Verwendet man hierzu das "Konzept des Merkmalsraums" und arbeitet mit Mehrfeldertafeln, kann man einen Überblick sowohl über alle potentiellen Kombinationsmöglichkeiten als auch über die konkrete empirische Verteilung der Fälle auf die Merkmalskombinationen erhalten.

(3) Analyse der inhaltlichen Sinnzusammenhänge und Typenbildung: Wenn die untersuchten sozialen Phänomene nicht nur beschrieben, sondern auch "verstanden" und "erklärt" werden sollen, müssen die inhaltlichen Sinnzusammenhänge analysiert werden, die den empirisch vorgefundenen Gruppen bzw. Merkmalskombinationen zugrundeliegen. Diese Analysen führen meist zu weiteren Merkmalen (Stufe 1), die bei der Typenbildung berücksichtigt werden müssen, so dass der Merkmalsraum ergänzt und die sich nun ergebende Gruppierung erneut auf empirische Regelmäßigkeiten (Stufe 2) und inhaltliche Sinnzusammenhänge hin untersucht werden kann (Stufe 3; siehe Abb. 1). Am Ende der Analysen kommt es dann in der Regel zu einer Reduktion des Merkmalsraums und damit der Gruppen (= Merkmalskombinationen) auf wenige Typen.

(4) Charakterisierung der gebildeten Typen: Abschließend werden die konstruierten Typen umfassend anhand ihrer Merkmalskombinationen sowie der inhaltlichen Sinnzusammenhänge charakterisiert.

Diese vier Stufen stellen Teilziele des Typenbildungsprozesses dar, die – je nach Forschungsfrage und Art und Qualität des Datenmaterials – mit der Hilfe verschiedener Auswertungsmethoden und -techniken realisiert werden können. So können die Fälle z.B. mit dem "Konzept des Merkmalsraums", durch eine fallvergleichende Kontrastierung oder durch den Einsatz rechnergestützter Gruppierungsverfahren wie der Clusteranalyse gruppiert werden. Das "Stufenmodell" weist durch die Verbindung verschiedener Methoden und Techniken eine sehr große Offenheit und Flexibilität auf, und kommt damit der Vielfalt qualitativer Fragestellungen und der unterschiedlichen Qualität des Datenmaterials sehr gut entgegen. Gleichzeitig sichern die vier "Auswertungsstufen", dass die zentralen Teilziele des Typenbildungsprozesses – Erarbeitung von relevanten Vergleichsdimensionen, Gruppierung der Fälle und Analyse empirischer Regelmäßigkeiten, Analyse der inhaltlichen Sinnzusammenhänge und Typenbildung, Charakterisierung der Typen – realisiert werden.

Kurzbiographie

Dr. Susann Kluge, geb. 1963. Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Passau und an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster/Westf. von 1982 bis 1987 und der Sozialwissenschaft an der Universität Bremen von 1987 bis 1991. Seit 1992 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich "Methodenentwicklung und EDV" des Sonderforschungsbereichs 186 "Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf" der Universität Bremen. Promotion an der Universität Bremen

Ausgangspunkt dieser Arbeit ist die überraschende Einhelligkeit, mit der der Wandel familialer Lebensformen für das zunehmende Auftreten sozialer Probleme in unserer Gesellschaft verantwortlich gemacht wird. Die Arbeit zeigt zunächst, welche unterschwelligen Interessen sich mit dem Vortrag dieser These in den Bereichen von Alltagswelt, Politik und Wissenschaft verbinden und inwiefern sie sich damit als überprüfungsbedürftig erweist. Für eine solche Überprüfung wird ein lebensverlaufstheoretischer Ansatz gewählt, der über die bisherige Forschung hinaus auch den sozialen, historischen und lebensgeschichtlichen Kontext sowohl familialer Veränderungen als auch des Auftretens sozialer Probleme zu berücksichtigen vermag. Am Beispiel der diskontinuierlichen Elternschaft zeigt eine Kohortenanalyse auf der Basis von deutschen und amerikanischen Umfragedaten, daß die Auswirkungen familialen Wandels auf Kinder in erster Linie von seiner sozialen und politischen Rahmung abhängen und nicht primär von den Strukturveränderungen der Familie. Damit geht, so die Quintessenz der Studie, eine politische Schuldzuweisung für die Zunahme sozialer Probleme vor allem an alleinerziehende und geschiedene Mütter an der Sache vorbei und verstellt den Blick auf die Notwendigkeit ihrer familien- wie gesellschaftspolitischen Unterstützung.



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